Überall stehen Koffer herum. Auf dem Tisch liegen Avocadoschiffchen und andere Frühstücksreste, dazwischen Hunderte unterschriebene Autogrammkarten und ein Stift. Die Wohnung sieht aus wie eine Rumpelbude. Auf dem Sofa ein Turnier-Trikot, riesige Schuhen und ein brauner Lederball. (Notiz: Alle Utensilien bitte einmal professionell einrahmen!) Sonst ist die Bühne leer. Der Vorhang zu. Das WM-Sommertheater abgedreht. Die Jungs sind weg. Über alle Berge. Zurück zum Flughafen und in die USA. Kein Türknallen, kein Lachen mehr aus den hinteren Gemächern. Kein Hip-Hop mehr aus dem Bad. Nur noch ein hohles Plastik-Schlurfen aus der Küche. Axel macht Kaffee. Er ist mein Mann. Ich habe ihn am ersten Tag unseres Medizinstudiums an der Berliner Charité kennengelernt. Seitdem teilen wir unser Leben. Uns verbinden starke Gefühle, viele wunderbare Erlebnisse, schwierige Erfahrungen. Und unsere Söhne Moritz und Franz. Statt die Füße anzuheben, zieht er jetzt seine Hausschuhe über das Parkett – das mir so vertraute Axel-Geräusch. Ich liege ermattet auf dem Bett. Warte auf meinen zweiten Kaffee heute Morgen. Starre in den Herbst vor dem Fenster und versuche, zu verstehen, was passiert ist. Es ist verrückt, denke ich. Crazy! Aber es ist wahr: Moritz und Franz sind Weltmeister.
Das „Wunder von Manila“ stand in allen Zeitungen. Es ist das Happy End von fünf Wochen Ausnahmezustand, das Endergebnis der Basketball Weltmeisterschaft 2023. Unsere Söhne haben gehörig mitgemischt und auch wir Eltern waren mittendrin. Wir sind mit nach Japan und auf die Philippinen gereist. Haben angefeuert, mitgefiebert, geschwitzt, gezittert, unterstützt, vor Aufregung nicht geschlafen. Am Ende geheult vor Freude. Wir waren im WM-Tunnel. Eine Zeit voller Superlative (acht Spiele, acht Siege) und Gegensätze (Luxushotel inmitten der Slums von Manila). Am letzten Abend ist ein Traum wahr geworden: Das deutsche Nationalteam hat die Goldmedaille geholt, die Welt mit seinem Teamspirit verzaubert, hierzulande einen Basketball-Hype ausgelöst. Deutschland ist Basketball-Weltmeister! Zum ersten Mal überhaupt in der Sportgeschichte. Ich liege also da, mein Gehirn hat einen Sprung in der Platte. Immer wieder führt es mich auf den Basketballcourt der Mall of Asia Arena in Manila. Zu dem Moment, als hier die deutsche Nationalmannschaft im Finale Serbien mit 83:77 besiegt hat. Nach dem Abpfiff rasten die Jungs aus, springen in die Höhe, fallen zu Boden und übereinander her. Ein Knäuel glücklicher Basketballer. Auch auf den Rängen gibt es kein Halten mehr. Menschen springen von ihren Plätzen. Weinen, schreien, umarmen sich. Die geschlagenen, serbischen Spieler ziehen vom Feld. Dann die Siegerehrung. Die Jungs zählen „Eins, zwei, drei“. Dennis Schröder reckt den Pokal in die Höhe. Es regnet goldene Konfetti. Laut ertönt „We are the Champions“. Die ganze Halle grölt. Danach wird es unübersichtlich. Nun stürmen auch Kinder, Fotografen, Ehefrauen auf den Court. Es ist ein wildes Fest. In der Menge sehe ich Moritz, der auf mich zuläuft. Ich stehe immer noch hinter der Bande, seit Minuten wie angewurzelt, wie gelähmt durch das Unfassbare vor mir. „Jetzt hör mal auf zu heulen und komm her“, schreit er in meine Richtung und streckt seinen Arm aus. Der ganze Moritz ist ein einziges Strahlen. Ich klettere über die Bande. Plötzlich stehe ich auch auf dem Feld. Schaue an meinem roten Kleid hinab (ab sofort mein Weltmeisterkleid), sehe meine Turnschuhe auf dem Gold übersäten Parkett, die Leute, die um mich herum tanzen, sich in den Armen halten. Ich höre die Kameras klicken und wie noch immer die Siegerhymne durch die Arena schallt. Ich spüre, wie Tränen über meine Wangen fließen, auf der Haut kitzeln und meine Schminke läuft. Irgendjemand drückt mir den Pokal in die Arme. Er ist krass schwer. Dann schließen mich Moritz und Franz und auch Axel in ihre langen Arme. Wir halten uns für ein paar Momente ganz fest. Alles fühlt sich warm, fließend und stimmig an. Es fällt eine riesige Anspannung von mir ab. Ich spüre pure Freude, unendliche Dankbarkeit, ein wirklich für diesen Moment ungetrübtes Glück! Euer, unser Weltmeister-Moment. Ich werde ihn von jetzt an in mir tragen. Ich werde mich immer daran erinnern. I feel blessed. Ich fühle mich gesegnet. Große Worte, aber sie sind absolut angemessen.
Hier auf dem Bett kann ich mich, wie auf Knopfdruck, immer wieder in dieses Gefühl zurückbeamen. Ein fantastischer Flashback, willentlich abrufbar. Ich greife ich zum Handy, um mich von der Realität der Bilder in meinem Kopf zu überzeugen. Es ploppen Videos, SMS, Fotos auf. Es stimmt alles. Moritz und Franz sind World Champions. Franz und Moritz sind tatsächlich Weltmeister, sie jubeln, wir jubeln mit ihnen. Ich schaue rum im Schlafzimmer, sehe die Kinderbilder an der Wand, denke an all die Sachen, die in der Küche noch von den Jungs rumliegen – und bin drin im nächsten Flashback. Jetzt scrolle ich durch all die Bilder der letzten Jahre, durch meine Erinnerungen. Alles ging so schnell. Niemand konnte ahnen, dass die Träume unserer Söhne wahr werden könnten. Gerade erst waren wir in Manila und auf Okinawa, doch auch davor ist schon so viel passiert. Ein Gedanke folgt auf den nächsten, ein Ort in meinem Kopf löst den anderen ab: Berlin, Ann Arbor, Los Angeles, Washington, irgendwann Orlando. Mir kommt eine verrückte Szene nach der anderen in den Sinn.
Manhatten Beach, Kalifornien, 2018. Wir haben keine Wahl. Wir brauchen heute eine Matratze. Wir hieven sie auf das Dach. Sie hängt schief, ist riesig und steht über. Das kleine, rote Mietauto verschwindet darunter. Wir ruckeln an dem weißen Monstrum. Quetschen uns auf die Sitze. Durch die Fenster hängen vier Strippen nach innen. Grün, faserig und so dünn, dass man sie kaum greifen kann. Zum Paketschnüren sind sie sicher geeignet. Aber um eine Kingsize-Matratze zu halten? Wir fahren los. Auf die Susan Street, dann weiter Richtung I-405 North. Wie eine Schildkröte über den Highway bis nach Manhattan Beach. Von Anaheim dauert das eine Dreiviertelstunde. Der Fahrtwind drückt gegen die Matratze. Ich habe panische Angst. Gleich wird sie nach vorne rutschen, dann können wir nicht mehr durch die Frontscheibe gucken, fürchte ich. Oder sie fliegt nach hinten, dann gibt es einen fiesen Unfall. Ich sehe schon die Schlagzeile: „German Mattress Crash!“ Wir ziehen fester an der Strippe. Axel fährt. Franz lacht. Ich weine. Moritz filmt. Der Matratzentransport nach Manhattan Beach markiert den Auftakt von Moritz’ Karriere als Profibasketballer in der NBA. Die National Basketball Association steht für großen Sport, riesige Arenen, sehr viel Geld und smarte Agenten. NBA steht für: „Du hast es geschafft!“ Eine Matratze von Ikea auf einem Mietauto passt da nicht ins Bild.Manhattan Beach liegt in der South Bay, eine knappe Stunde Fahrt von Downtown Los Angeles. Der Pier ist bekannt für sein tolles Aquarium. Das beste Frühstück gibt es in Uncle Bill´s Pancake House. Manhattan Beach steht aber vor allem für vier Meilen feinsten, weißen Strand, teure Villen in der ersten Reihe, Surfer und Palmen. Hier wohnen jede Menge VIPs: Models wie Rachel Hunter, Schauspieler wie Owen Wilson oder Benjamin McKenzie, und hier wohnen auch viele Beachvolleyballer und Basketballprofis. Unser Sohn Moritz ist noch kein Glamour-Schwergewicht. Aber seit ein paar Wochen ist er NBA-Spieler. Einer von im Schnitt mehr oder weniger 500 professionellen Basketballern der besten Liga der Welt. Moritz hat ein Händchen dafür, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein. Warum also nicht nach Manhattan Beach ziehen? Seine Wohnung – es ist die erste eigene überhaupt – liegt zwei Gehminuten vom Strand entfernt. Vom Balkon aus sieht man das Blau des Wassers. Wenn man sich auf die neue Matratze legt und die Augen schließt, hört man das Rauschen des Pazifiks. Ein Traum ist wahr geworden. Augen schließen. Wahrnehmen. Sortieren. Ist das wirklich wahr? Wo führt das alles noch hin? In den letzten Jahren habe ich das oft gemacht. Denn die waren voller unglaublicher Momente, in immer kürzeren Abständen. Die vielen Höhepunkte in den noch jungen Leben unserer Söhne haben uns dorthin gebracht, wo wir heute sind. Und unser Miteinander mit Moritz und Franz hat uns zu den Menschen gemacht, die wir heute sind. Gemeinsam haben wir eine lange Reise zurückgelegt. Auf das Matratzendrama folgt der nächste Flashback, wieder sitze ich in einem Mietauto. Dieses Mal entspannter, ohne Strippen in der Hand. Ohne sperrige Last. Nur mit Axel am Steuer neben mir, eine siebenstündige Autofahrt vor uns. Genug Zeit, um gemeinsam Revue passieren zu lassen, was bis Ende dieses Jahres 2022 alles so passiert ist bei uns. Axel und ich fahren nach Key West. Ein Paradies am Ende einer Kette von 200 Koralleninseln in Florida, der südlichste Punkt der USA und einst Zuhause von Tennessee Williams und Ernest Hemingway. Wir wollen dort zu zweit dieses Jahr abschließen. Die letzten Jahre rekapitulieren, bevor Axel wieder nach Berlin fliegt. Bis eben haben wir noch im Haus der Jungs in Orlando/Winter Park gefrühstückt. Dann sind sie für zehn Tage an die Westküste der USA aufgebrochen. Auswärtsfahrt mit ihrem Club der Orlando Magic, für den die beiden nun die zweite Saison zusammen spielen. Wenn sie von dem Roadtrip zurückkehren, wird ihr Vater längst wieder in Deutschland sein. Je mehr im Leben passiert, desto schneller scheint es zu vergehen. Meine letzten Jahre sind gerast. Wo fange ich an, wenn ich davon erzählen will? Am besten hier, auf der Straße nach Key West. Der morgendliche Verkehr auf dem Florida Turnpike ist entspannt. Rechts und links Wiese, mal ein Tümpel (wahrscheinlich mit Alligatoren drin), Grasland, Sumpf bis zum Horizont. Es geht immer nur geradeaus. In Fort Lauderdale wird es trubeliger, hinter Miami traumhaft. Wir fahren auf dem Overseas Highway praktisch durch den türkisfarbenen Ozean, rechts und links nur Wasser. Eine kleine Insel nach der anderen, über 42 Brücken nach Key West. Vor zwölf Jahren waren Axel und Moritz schon einmal hier. Der Anlass damals: die Jugendweihe von Moritz. Die Jugendweihe ist eine ostdeutsche Tradition, die den Übergang vom Kind zum Erwachsensein feiert, das säkulare Pendant zur Konfirmation. Eine christliche Konfirmation kam für uns nicht infrage. Wir leben mitten im ehemaligen Ostteil von Berlin – in einem atheistisch geprägten Umfeld. Wir haben unsere Kinder nicht taufen lassen. Wir sind keine Kirchgänger, höchstens mal an Weihnachten. Als sich Moritz’ Klasse gesammelt zur Jugendweihe anmeldet, kommen wir ins Grübeln. Denn einen feierlichen Moment für sein Erwachsenwerden wünschen wir uns schon. Also entscheiden wir, dass wir mit Moritz und unserer ganzen Familie auch eine Jugendweihe feiern werden. Mit einer Reise nach Florida als Geschenk. Moritz war damals 15 und NBA-Fan. Der Höhepunkt der Reise stand längst fest: einmal ein NBA-Spiel erleben, vielleicht sogar ein Play-off-Spiel? In Old Town Key West angekommen, suchen wir das Hotel von damals: Pastellfarbenes Holzhaus, Innenhof, kleiner Pool, Palmen, karibische Atmosphäre, so hat es damals ausgesehen, sagt Axel. Ihm fällt die warmherzige Köchin ein, die morgens Frühstück gemacht und bei der Abreise mit kubanischen Akzent zu Moritz gesagt hat: „Make your daddy proud!“ Wir finden das Hotel nicht. Die Innenhöfe der Holzhäuser sehen alle gleich aus. Aber die Erinnerung an das nette Pläuschchen beim Frühstück bleibt. An das erste NBA-Spiel, das Moritz und Axel live gesehen haben. „Die Miami Heat waren damals Moritz’ Wunsch“, erinnert sich Axel auf dem Spaziergang zum Southernmost Point, dem südlichste Punkt der USA. „Zu der Zeit spielten dort LeBron James, Dwayne Wade und Chris Bosh. „Ich hatte ganz schön Stress mit den Terminen und Karten, ich musste nochmal umbuchen.“ Letztendlich waren die beiden dann beim ersten Eastern Conference Finals Game: Boston Celtics gegen Miami Heat. „Es war aufregend“, erinnert sich Axel. „Wir hatten damals noch gar keine Ahnung. Ich hab zum Beispiel sogenannte Nosebleed Seats gekauft, also Tickets ganz oben.“ Nosebleed-Seats bedeutet „Nasenbluten-Sitze“ – und bezieht sich auf Bergsteiger, die in großer Höhe eben oft Nasenbluten bekommen. Die Karten kosteten damals schon 165 Dollar. Pro Stück! „Fand ich ziemlich teuer. Wir mussten ja auch noch irgendwo schlafen und essen“, so Axel. „Der Junge war in einem Alter, in dem er ständig Hunger hatte. Und wir wollten noch rumreisen in Florida, bestimmte Basketballschuhe und das eine oder andere Team-T-Shirt, auch für Franz, kaufen. Da kam einiges zusammen.“ Das Spiel hat an dem Abend Miami Heat gewonnen. „Legendärer Dunk von LeBron James nach Assist von Dwane Wade“, erinnert sich Axel. „Wir waren natürlich sehr früh da und haben alles aufgesogen wie Schwämme. Moritz Augen strahlten den ganzen Abend, ein absolutes Highlight, ein tolles Erlebnis für ihn.“ Axel guckt nachdenklich. „Und für mich auch. Für uns.“ Für Axel war die ganze Sache kein Selbstläufer. Er ist im Osten aufgewachsen, war selbst Handball-Jugendnationalspieler, das erste Mal 1993 kurz nach der Wende in den USA. „Ich habe mir damals einen Traum erfüllt“, sagt er heute. Dem amerikanischen Lifestyle und der dollarschweren Branche des Sportentertainments stand er aber eher skeptisch gegenüber. Gleichzeitig hat ihn die Weite, die Natur, das Abenteurer, das Versprechen von Freiheit in den USA immer angezogen. Die Reise mit Moritz war vor allem durch Moritz´ Freude ein tolles Vater-Sohn-Erlebnis. Kürzlich fand ich zufällig Fotos von der Reise. Auf den Bildern sieht man Moritz mit all den Cheerleadern. Die Halle von außen. Vater und Sohn glücklich vor der Arena. Niemals hätten wir damals gedacht, dass wir alle nochmal eine NBA-Arena von innen sehen würden. Geschweige denn, dass unsere Kinder selbst einmal dort spielen würden.
Als Axel und Moritz wieder zu Hause in Berlin eintreffen, scheint ein Bann gebrochen. Die NBA, College-Basketball und die Idee einer Zukunft als Sportler in den entfernten USA sind fortan präsent bei uns. So oft wie möglich gucken Moritz, Axel und Franz jetzt NBA. Ab und an verfolgen sie auch die Spiele der Wolverines, dem College-Team der University of Michigan. Ich sehe sie zu dritt auf dem schwarzen Sofa vor dem kleinen Laptop sitzen, höre die amerikanische TV-Moderatorenstimme im Hintergrund: Für mich ist das zu dem Zeitpunkt noch eine sehr fremde Welt. Realer wird Basketball bei uns zu Hause. Moritz geht jetzt täglich zum Training, bei Alba und im Landeskader. Der Sport bestimmt seinen Alltag. Auch Franz ist mittlerweile Basketballer – und liebt das Spiel vom ersten Tag an. Es vergeht kein Wochenende mehr, keine Ferien mehr ohne Kadertraining, ohne Alba, ohne irgendein Turnier. Und auch nicht ohne den Traum von der NBA. Moritz erinnert sich genau, wann er ihn zum ersten Mal geträumt hat. „Ihr habt mir ein gefälschtes Jersey von Kevin Garnett zu Weihnachten geschenkt. Damit bin ich dann zum Training gegangen. Da wusste ich, dass ich in die NBA will. Da war ich vielleicht zwölf.“ Ich habe nur noch verschwommene Erinnerungen an diese Geschenke. Auf jeden Fall hatte sie Axel damals gekauft. Ich fühlte mich in Sachen Basketball noch nicht kompetent. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wer Kevin Garnett ist. Auch Franz bekommt damals ein Jersey. Von LeBron James – damals Spieler der Cleveland Cavaliers. Auch Franz erinnert sich genau, wann er den Entschluss fasste, dass er einmal NBA-Spieler werden will: Sein Freund Vincent hatte ihm eine Videokassette mit einer Dokumentation über Dwayne Wade zum Geburtstag geschenkt. Nachdem er die gesehen hatte, war es um ihn geschehen. „Ich glaube, wir waren neun“, erinnert sich Franz. „Vincent hat mich auch das erste Mal mit zum Basketball genommen. Er spielt heute aber nicht mehr.“ Moritz und Franz tragen ihre Jerseys. Sie spielen immer besser. Sie wachsen zu jungen Männern heran. Trotzdem vergehen noch Jahre, in denen die NBA mehr Traum als Zukunftsvision bleibt. Aus mehreren Gründen. Zunächst die Größe. Wir waren zwar immer eine raumgreifende Familie. Bei unseren Freunden hießen wir „Familie laut“, die beiden anderen Familien hießen „Familie spät“ und „Familie irgendwie“. Vor allem sind wir aber auch alle Spätentwickler. Im Vergleich zu ihren Vereinskollegen entwickelten sich Moritz und Franz also relativ spät zu körperlich sehr großen Spielern. Moritz misst heute mit Basketballschuhen 2,11 Meter, Franz 2,08 Meter. Zumindest bei Moritz schien lange niemand vorauszusehen, dass er bald für eine Profikarriere geeignet sein könnte. Die NBA ist sehr weit weg von Deutschland. In meinem Kopf als Mutter, die damals noch nicht viele Berührungspunkte mit der Liga hatte. Und für die sich die tatsächliche Entfernung bis heute nicht gut anfühlt. Mann, sind die Kids weit weg, denke ich dann oft! Zehn Stunden Flug brauche ich, um sie zu sehen. Aber auch in den Köpfen vieler Coaches und Funktionäre hierzulande scheint die NBA nicht präsent zu sein. Sie ist eine gedankliche und tatsächliche Unmöglichkeit. Nichts, wovon man träumt, und erst recht nichts, was man tut. Verständlich, weil dieser Weg nur sehr selten gegangen wird. Verständlich auch, dass kein deutscher Club ein aufwändiges Jugendprogramm unterhält, damit die dort ausgebildeten Talente danach in die USA verschwinden. In der NBA Basketball zu spielen, ist nur eine Möglichkeit – die unwahrscheinlichste. In Europa und der deutschen Bundesliga als Profibasketballer zu spielen ist eine andere. Und auch die passiert selten genug. Ich hätte es trotzdem schön gefunden, wenn den Kindern, die für Basketball schwärmen, alle Optionen aufgezeigt worden wären. Doch auch bei Alba Berlin war es damals – zumindest nach unserem Erleben – nicht so gern gesehen, wenn die Kinder von der NBA sprachen oder gar NBA-Socken trugen. Wer das tat, galt bei so manchem Trainer als unrealistischer Träumer. „Du traust es dich nicht, auszusprechen, dass du diesen Traum hast,“, sagt Moritz heute und lacht. „Als Kind zu sagen, dass man in die NBA geht, da kommt man in Deutschland schon ins Gefängnis.“ Moritz war innerlich längst auf dem Weg. Er überragte bald alle Teamkollegen – mit 16 Jahren wuchs er 20 Zentimeter in einem Jahr. Und er spielte immer besser. 2014 wurde er mit der NBBL Deutscher Meister. Im Oktober 2014 gab er sein Debüt mit den Alba-Profis in der Mercedes-Benz-Arena. Ich habe bisher nicht viele Spiele meiner Kinder verpasst – dieser Abend gehörte leider dazu. Ich war mit meinen Freundinnen am Scharmützelsee. Axel hat mir die wichtigsten Spielszenen aber über das Handy geschickt. Ich hatte alles, was ich brauchte, um zu verstehen: Es war ein großartiger Start für Moritz ins Profidasein. Ab und an spielte er nun auch in der EuroLeague. Mit der Nationalmannschaft gewann er 2014 die U18-Europameisterschaft (B-Gruppe) in Bulgarien.
Heute, gut zehn Jahre später, tragen Moritz und Franz NBA-Jerseys mit ihren eigenen Namen auf dem Rücken. Ich brauche selbst den Kalender und die Bilder, um nachzuvollziehen, was zwischenzeitlich alles passiert ist – viele Monate und Jahre, in denen öffentlich niemand ausspricht, was bei uns zu Hause immer konkreter wird: eine Zukunft als Profibasketballspieler. Nach einer schmerzhaften Niederlage mit der JBBL in Leverkusen – ich erinnere mich an eine stundenlange, schweigsame Rückfahrt mit anderen Eltern – spricht Moritz dann aber klar und deutlich aus, worüber er schon nächtelang gegrübelt hatte: „Ich will ans College und von dort den Sprung in die NBA schaffen.“ Wir beratschlagen, wie wir ihm dabei helfen können. Axel kümmert sich. Durch einen Zufall gibt es einen Kontakt zu einem ersten Agenten. Natürlich ist so ein Wunsch – das war uns damals schon klar – erst einmal nur ein abstrakter Wunsch, der nicht automatisch Realität wird. Der Sprung für Europäer ans College ist aus mehreren Gründen riskant und schwer. Viele Jungs, die ihn nicht schaffen, sind körperlich unterlegen, nicht athletisch genug. Andere sitzen nur auf der Bank, weil die Konkurrenz zu groß ist oder sie zu wenig Durchsetzungskraft haben. Oder der Coach glaubt nicht an den Spieler. Manchmal ist auch der Wechsel in das andere Land ein Kulturschock. Es braucht Glück. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, braucht Mut und Glück. Wie unwahrscheinlich und glücklich der Weg für unsere Kinder war, habe ich erst richtig verstanden, als ich für dieses Buch recherchiert habe. Wir grübeln nächtelang, reden mit Moritz, lesen, grübeln weiter, ob es eine gute Idee ist, dass Moritz in die USA wechselt und sich der großen Konkurrenz der Highschool-Spieler um ein Athletenstipendium aussetzt. Wir waren doch erst einmal nur froh, dass das Kind mithilfe des Sports ohne größere Vorkommnisse durch die Pubertät kommt. Sollte daraus jetzt ein Auslandsjahr am College werden? Oder gar zwei, drei, vier? Sollte er mit gerade 18 bei uns ausziehen? Wollten wir das? Wie aber könnte der Weg sonst aussehen? Auf eine erste Euphorie folgten Zweifel. In Deutschland ist es schließlich nicht üblich, nach der Schule weiter auf hohem Niveau Basketball zu spielen und gleichzeitig zu studieren. Die einzige Alternative wäre also gewesen, dass Moritz einen Ausbildungsvertrag für vier Jahre bei Alba Berlin unterschreibt – und nicht studiert. Wir sprechen mit Leuten aus der Szene, mit Freunden. Lassen uns von dem damaligen Sportdirektor bei Alba, Mithat Demirel, verunsichern. Er legte uns eine Liste mit europäischen Talenten vor, die es alle nicht geschafft haben. Wir halten schließlich an Moritz’ Plan fest. Wir lieben seine Neugierde. Seinen Tatendrang, seine positive Sicht auf die Welt, sein Vertrauen in sich selbst. Wir freuen uns, dass es eine Möglichkeit gibt, seinen Sport und ein Studium an einer angesehenen amerikanischen Universität samt College-Erlebnis zu verbinden. Wir sind überzeugt: Der Weg ist das Ziel. Egal, wohin er führen wird, es wird gut werden. Mit Freunden stoßen wir genau darauf an.
Es kommt, wie Moritz es sich wünscht: Zur Saison 2015/2016 erhält er ein Sportstipendium in Michigan. Er wird College-Spieler der Michigan Wolverines und Student an der University of Michigan. Ich muss damit klarkommen, dass mein großes Kind aus- und sehr weit wegzieht. Das ist hart. Auch für unseren „Freshman“ ist das erste Jahr schwierig. Er bekommt nur wenig Spielzeit. Sein Englisch ist noch nicht perfekt. Er ist weit weg von allem Vertrauten, von zu Hause, von seiner Freundin. Mit der Zeit lebt er sich aber ein und beginnt sich wohlzufühlen. Als er nach der Saison das erste Mal wieder nach Hause kommt, strahlt er und chattet ununterbrochen mit seinen neuen, amerikanischen Freunden. Er scheint angekommen in der College-Welt von Ann Arbor. Ich sehe, wie Moritz an der Herausforderung wächst. Wir sind jetzt immer weniger unsicher, wir sind stolz auf ihn. Ich kann jetzt besser darauf vertrauen, dass er sich richtig entschieden hat. Wir gewöhnen uns daran, dass Moritz’ Leben zunehmend spezieller wird, es wird besonders. Dass er tatsächlich auf dem Weg zum Profibasketballer ist. Dass er bald im internationalen Rampenlicht stehen könnte. Dass auch unser Leben sich dadurch verändern wird. Doch das ist nur die eine Geschichte, die andere spielt in Berlin. Franz, gerade 13 und damit viereinhalb Jahre jünger als Moritz, wächst heran und wird in großen Schritten ebenfalls zum Basketballer. Er gilt bundesweit als großes Talent, vielleicht seit Langem als das größte in Deutschland. Wir Eltern – jetzt schon nicht mehr ganz so grün hinter den Ohren – begleiten ihn, wie wir es immer auch mit Moritz gemacht haben. Wir versuchen, trotz der vielen Erfolgsmeldungen weiter ruhig zu bleiben und vor allem im Kontakt mit Franz. Auch in seinem jungen Leben überschlagen sich bald die Ereignisse. Auch Franz spielt immer besser, durchläuft alle Stationen bei Alba. Mit 16 löst er Moritz als jüngsten Alba-Spieler in der Bundesliga ab. Auch Franz geht mit Axel auf eine Vater-Sohn-Reise zur Jugendweihe. Ihn zieht es nach San Francisco. Dort haben die beiden das große Glück, das siebte Spiel der Western Conference Finals sehen zu können, Golden State Warriors gegen Oklahoma City. „Durch Moritz waren wir der NBA zu dieser Zeit schon viel näher“, erinnert sich Axel an die Reise nach Kalifornien. „Wir kannten jetzt alle NBA-Spieler. Alles war so irre. Weil wir ja wussten, dass auch Moritz sich bald für den NBA-Draft anmelden würde. Dass die NBA also bald Teil auch unseres Lebens sein könnte.“ Im Vergleich zu Key West und der ersten Jugendweihe-Reise ist Axel mittlerweile vertraut mit der NBA, mit dem Dasein als Basketball-Vater in den USA. Er ist jetzt offen für alles, entspannt und kann sich sogar vorstellen, in diesem Kosmos vielleicht sogar selbst zeitweise mal zu leben. Wieder zu Hause, geht es bei Franz munter weiter. Er wird Deutscher Meister mit der NBBL und wertvollster Spieler des Turniers. (MVP, Most Valuable Player). In der Basketball-Bundesliga ist er mit 17 Jahren außerdem der beste deutsche Nachwuchsspieler unter 22. Mit den Profis wird er Vizemeister. Auch international hat man ihn auf dem Radar. Ich habe Mühe, hinter allem herzukommen. Im Juni 2018 begleite ich ihn zum „Top 100 High School Basketball Camp“ nach Virginia, einem Nachwuchscamp für die weltweit hundert talentiertesten Basketballspieler eines Jahrgangs. Franz ist jetzt 15 und als einer von nur fünf Europäern eingeladen. Die Woche werde ich nie vergessen. Zum ersten Mal bekomme ich ein Gefühl dafür, was es heißt, in den USA als Basketballer groß zu werden. Ich sehe die langen, kräftigen jungen Männer, alle in Joggingklamotten und in riesigen Sneakern, im Gesicht oft noch Kinder. Die meisten sind an ihren heimischen Highschools bereits Basketball-Stars. Die Mädchen verehren die Jungs, die schon längst kein normales Teenagerleben mehr leben. Sie alle haben das Ziel, in die NBA zu kommen. Der Statistik zufolge, das lerne ich in hier, wird das 14 von den 100 Jungs gelingen, die am Camp teilnehmen. Und das sind bereits die besten der vielen zehntausend amerikanischen Highschool-Spielern, die das wollen. Denn es ist zum einen sehr schwer, überhaupt eine professionelle Karriere als Basketballer zu beginnen: Geschätzt schaffen es nur 3,5 von hundert Highschool-Basketballern aufs College – was die Voraussetzung für die NBA ist. Nur 1,2 Prozent der College-Basketballer erreichen dann weiter die NBA. Ich bin heilfroh, dass ich Franz nach Virginia begleitet habe. Denn auch wenn er dort wie immer souverän Basketball spielt – die Stimmung ist doch ziemlich fremd für uns beide. Wir sind froh, dass wir unsere ersten basketballerischen Amerika-Erfahrungen miteinander teilen können. In Workshops lerne ich andere Mütter und Väter kennen, wir werden auf das Dasein als potentielle NBA-Eltern vorbereitet. Wie passend für mich, schließlich steht Moritz Versuch, in die NBA zu kommen, kurz bevor. Franz und ich werden von Virginia direkt dorthin nach New York fliegen. Moritz selbst tourt gerade noch durchs Land, stellt sich bei verschiedenen Teams vor, durchläuft diverse Interviews und Fitnesstests auf der sogenannten NBA-Combine. Die NBA-Combine ist eine mehrtägige Show, bei der die künftigen NBA-Spiele physisch und mental auf Herz und Nieren geprüft werden. Eine Woche später treffen wir uns dann alle in Big Apple. Franz und ich treffen aus Virginia ein, Moritz von der Combine, Axel aus Berlin. Unser Boutique Hotel liegt in 355 West 16th Street in dem hippen Meatpacking District. Es heißt Dream Downtown. Die Woche fühlt sich wahrlich wie ein Traum an. Doch es ist keiner, alles passiert wirklich.
Wir floaten durch New York City. Tagsüber schlendern wir über die High Line, eine stillgelegte Hochbahntrasse mitten in Manhattan oder wir lunchen im Chelsea Market. Manchmal hänge ich auch einfach mit kühlem Getränk in der fancy Hotellobby auf der braunen Ledercouch ab, hinter mir an der Wand eine riesige US-Flagge aus Getränkedosen, über mir der gläserne Hotelpool der ersten Etage. Schaut man hoch, funkelt die Sonne durch das blaue Wasser, ab und an schwimmen Beine vorbei. Abends wartet eine schwarze Limousine vor dem Hotel. Sie bringt uns mal zu einer Party der NBA-Spielergewerkschaft, die auch das Top 100 Camp in Virginia ausgerichtet hat. Mal zum Union Square, wo wir mit Moritz’ Agent Joe essen. Oder wir sind beim Dinner am Broadway mit Kim Bohuny, die bei der NBA Senior Vice President für die internationalen Basketballgeschäfte ist. Ich sitze direkt neben der blonden, elegant gekleideten New Yorkerin. Sie spricht viel zu schnell, ist aber zugewandt und bestellt alles, was die Karte so hergibt. Wir sitzen in ihrem eigenen, italienischen Restaurant. Die NBA-Managerin schwärmt von Moritz – so als sei der bereits längst in der NBA. Und sie redet fröhlich auf Franz ein – so als wäre er der nächste sichere NBA-Kandidat …
Moritz und Franz Wagner haben das geschafft, wovon wohl jeder Basketballspieler träumt: Sie sind Teil der NBA, der größten Basketballliga der Welt. Die beiden sind das erste deutsche Brüderpaar in der NBA und sie spielen in der nordamerikanischen Profiliga aktuell für das gleiche Team – die Orlando Magic. 2023 wurden sie mit der deutschen Basketball-Nationalmannschaft Weltmeister – zum ersten Mal in der Geschichte des deutschen Basketballs. Häufig mittendrin im Geschehen und an der Seite ihrer Söhne ist Mutter Beate Wagner. Beate Wagner, Ärztin, Wissenschafts- und Medizinjournalistin und „Athlete-Mum“ erzählt in ihrem Buch über ihre Erfahrungen mit ihren beiden Söhnen Moritz und Franz. Sie beschreibt, mit welchen Werten sie ihre Kinder begleitet hat, warum die Familie keine typische Sportfamilie ist und dass ihr die enge Beziehung zu den Kindern wichtiger war als eine zielorientierte Erziehung zu NBA-Basketballern. Beate Wagner spricht mit Wegbegleitern und auch Moritz und Franz Wagner kommen immer wieder zu Wort. Sie erinnert sich, wie sie als rebellische, junge Mutter mit zwei Jungs gestartet ist und wie, für sie selbst überraschend, daraus zwei erfolgreiche Basketballer wurden. Sie erklärt, was den amerikani-schen vom deutschen Basketball unterscheidet und beschreibt, wie sie gemeinsam mit ihrem Mann durch ihre Kinder innerlich gewachsen ist, was das mit mentaler Stärke und Gefühlsbereitschaft zu tun hat und warum Verletzlichkeit, Vertrauen und die Akzeptanz eigener Fehler die größten Garanten sind, um sein volles Potenzial zu entfalten.
Ich danke allen Leser:innen für ihr Feedback:
… Fesselnd und total fasziniert habe ich Ihr Buch regelrecht verschlungen. Ich las gespannt, ich weinte und fühlte mit. Sie haben sehr umfassend die Schwierigkeiten einer Familie beschrieben, wo sich jede Mutter oder Vater mit seinen Sorgen wieder findet. Die Entscheidung, seine Kinder weit weg von zuhause ihr Leben selbständig arrangieren zu lassen, ja loszulassen, muss ein riesen Kraftakt gewesen sein. Sie haben tolle Jungs, gute Jungs. Sie sind bodenständig und wissen, was sie wollen. Durch dieses Buch wird jedem Leser ein Stück Basketballsport näher gebracht. Ja, wir sind Weltmeister im Basketball und Ihre Jungs haben dazu beigetragen …
… Danke sehr für diese besonderen Einblicke. Bei manchen Szenen bekam ich feuchte Augen, als Coach B vorfuhr etwa und die Jungs am Fenster standen, bei bestimmten Verabschiedungen, nächsten Schritten und Entscheidungen der Jungs. Es ist schön zu lesen, dass sie bei alledem so geerdet sind …